
Annelise Kretschmer als Künstlerin
Annelise Kretschmer setzte Fotografie nicht mit der bildenden Kunst gleich. Fotografie war für sie etwas anderes: „Fotos sind sehr konkret, und es können viele Dinge mit der Fotografie nicht ausgedrückt werden.“ Trotz dieser eigenen Bewertung der künstlerischen Tätigkeit ist unstrittig, dass sie zu den großen (Foto)-Künstler:innen in Deutschland gehört.
Anfänge
Nordafrika
Annelise Kretschmer
1923
Bromöldruck auf Japanpapier
24,7 x 32,5 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31134 LM
Die ersten fotografischen Versuche unternimmt Annelise Kretschmer (damals noch Silberbach) mit der 6 × 9-Plattenkamera ihrer Mutter im Norden Afrikas. Sie fotografiert als Touristin aus größerer Distanz. Dabei richtet sie ihr Objektiv überwiegend frontal auf Dinge und Szenen, die ihr Interesse wecken: Es sind in ihrem klassischen Bildaufbau noch wohlkomponierte Amateuraufnahmen. Ausgewählte Motive dieser Reise wie diese Fotografie wertet sie später bei Franz Fiedler durch den jetzt erlernten Bromölumdruck ästhetisch auf.

Selbstporträt mit einer der ersten Leica-Kameras, einer Leica I
Franz Fiedler
um 1924
Silbergelatineabzug
20,4 x 15,4 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31781 LM
Bei dem Essener Fotografen Leon von Kaenel macht Annelise Kretschmer erste Erfahrungen als Porträtfotografin: In dieser Zeit zeigte sich ihre „Fähigkeit […], den Menschen im Bilde zu erfassen“. Prägender ist jedoch sicherlich ihre Ausbildung bei Franz Fiedler in Dresden. Hier lernt sie, ihre Sinne zu sensibilisieren, um „aktives Sehen“, „Denken in Bildern“ und „eine Erweiterung der optischen Erlebnisfähigkeit“ zu trainieren. So sind Kretschmers Porträtstudien aus der Dresdener Zeit einerseits geprägt vom Stil des Lehrers zwischen „klassizistischer“ und neusachlicher Auffassung. Andererseits zeugen sie vom spielerischen Umgang mit Stoffen und Posen, was ein kennzeichnendes Stilmittel in Kretschmers späterem beruflichen Porträtschaffen werden sollte.

Porträt Irma Goecke
Annelise Kretschmer
1926
Bromöldruck auf Japanpapier
36,8 x 27 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30636 LM
- NICHT IN DER AUSSTELLUNG -
Das in der Dresdener Lehrzeit erlernte Bromöldruckverfahren nutzt sie als malerische wirkende Veredelungstechnik für Porträts, wie das ihrer langjährigen Freundin Irma Goecke, die zu dieser Zeit die Textilfachklasse an der Kunstgewerbeschule in Dortmund leitet.

Stadtansichten I
Paris
Annelise Kretschmer
1928
Silbergelatineabzug
37,9 x 27,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30634 LM
Nach Abschluss ihrer Dresdener Ausbildung reist Annelise Kretschmer 1928 nach Paris und fotografiert das Stadtleben. Die Bildfindungen der dort entstandenen Werke wirken wie Bildideen des modernen Flaneurs. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Stadtfotografie beeinflusst eine ganz neue Ästhetik ihr Werk. So ist bei der Fotografie „Paris“ eine gewisse stilistische Nähe zu den (foto-)grafischen Kompositionen von Florence Henri festzustellen.
Das Werk "Paris" wurde 1931 in einem anderen Bildausschnitt und nach links gekippt in der Zeitschrift der „Querschnitt“ publiziert.

Wäscherinnen
Annelise Kretschmer
1928
Silbergelatineabzug
28,9 x 35,2 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30635 LM
Banale Augenblicke werden zu Ikonen des urbanen Lebens, und einige der Bilder lassen durchaus Vergleiche mit den damals bereits bekannten Straßenfotografien von Eugène Atget (1857–1927) zu. Auch zu den Werken anderer Fotografen sind Bezüge festzustellen, wie beispielsweise zu jenen von André Kertész (1894–1985).

Mode
Frau mit Hut
Annelise Kretschmer
1930
Silbergelatineabzug
39,2 x 29,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30629 LM
Modefotografie nimmt im Oeuvre Kretschmers einen breiten Raum ein. Oft arbeitet sie dabei für das elterliche Modegeschäft. Einige der Fotos werden auch für Fortsetzungsromane in Zeitschriften genutzt. Sie selbst sagt zur Modefotografie: „Bei den Modefotos war mir die Mode sekundär – es waren Porträtaufnahmen, bei denen ich mit Stoffen und Accessoires spielen konnte.“

Porträt der Opernsängerin Ellice Illiard
Annelise Kretschmer
1930
Silbergelatineabzug
29,3 x 39 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30628 LM
Entsprechend der besonderen Bedeutung der Porträtfotografie für Annelise Kretschmer lässt sich für die Modefotografie bei ihr feststellen, dass Kretschmer Kleidung als spielerisches Mittel für die Bildinszenierung einsetzt. Sie arbeitet mit starken Kontrasten und experimentiert mit Oberflächen und Mustern. Dabei wird die modische Kleidung aber nicht in den Vordergrund gestellt, vielmehr wirkt sie fast beiläufig und unterstreicht die Persönlichkeit der Trägerin.

Stadtansichten II
Der Kohlenpott. Ein Buch von der Ruhr
Georg Schwarz
1931
LWL-Museumsamt für Westfalen
Auch in ihrer Heimatstadt Dortmund begibt sich Annelise Kretschmer auf Streifzüge. Allerdings ist die Anzahl der erhaltenen Abzüge, die außerhalb des Ateliers entstehen und die Architekturen, Landschaften oder Straßenszenen aus Dortmund und seiner Umgebung zeigen, im Nachlass überschaubar. Jedoch deuten sie gemeinsam mit den fünf im 1931 veröffentlichten Buch „Kohlenpott“ von Georg Schwarz (1896–1943) abgebildeten Aufnahmen eine große motivische Spannbreite an, die bis Ende der 1950er-Jahre immer wieder sichtbar wird.

Hauswand Dortmunder Norden
Annelise Kretschmer
1930
Silbergelatineabzug
38 x 28,9 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31101 LM
Der Titel des Werks „Hauswand Dortmunder Norden“ geht nicht auf die politische Dimension des Motivs – also die Wahl von 1930 – ein. Jedoch muss diese von Kretschmer mitgedacht worden sein. Sie fokussiert mit der Kamera die ganze Hauswand als bild-narrative Fläche und lenkt doch den Blick am äußersten rechten Bildrand beiläufig in die Tiefe der Wohnstraße der Arbeiterwohnsiedlung.

Porträts I
Bildnis Sigmund Kretschmer
Annelise Kretschmer
um 1928
Silbergelatineabzug
22,7 x 23,5 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30890 LM
1929 eröffnet Annelise Kretschmer ihr Porträtatelier in Dortmund. Ihr Stil hat sich mittlerweile vom „Piktorialismus“ der Dresdener Zeit hin zum „Neuen Sehen“ entwickelt. Die eindrucksvollen Bildnisse zeigen die Dargestellten in „knappen, fast bedrängenden Bildausschnitten ohne charakterisierendes Ambiente […]. Die Portraitierte rückt zum Greifen nah. Kopf, Rumpf, Arme und Hände bilden beziehungsreiche Achsen […].“

Porträt Tatjana Kretschmer
Annelise Kretschmer
1935
Silbergelatineabzug
39,5 x 29,9 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31553 LM
Als besonderes Genre innerhalb des fotografischen Werkes Kretschmers fallen ihre Kinderbildnisse auf. Sie haben nicht nur eine bemerkenswerte psychologische Intensität – den Kindern wird auch ein besonderer (Bild-)Raum eingeräumt. Die Bildaussage wird nicht formalästhetischen Grundsätzen unterworfen, vielmehr übermitteln eher klassische fotografische Gestaltungsmittel wie z. B. eine ausgefeilte Lichtregie oder der Einsatz von Spiegeln die Intensität der Persönlichkeit oder des Moments.

Bildnis Nina Kretschmer
Annelise Kretschmer
1943
Silbergelatineabzug
23,7 x 17,9 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31088 LM
Eine ganz besondere Wirkung entfaltet das Porträt von Kretschmers Tochter Nina (1938–2015) aus dem Jahr 1943. Es zeigt das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen neben einem großen Kreisel. Die Szene ist in dramatisch wirkendes Licht getaucht, das dem Bild eine unmittelbare Aura verleiht und angesichts der Zeit, in der es aufgenommen wurde, geradezu paradigmatisch anmutet.

Bildnis von drei Kindern aus Worpswede
Annelise Kretschmer
1937
Silbergelatineabzug
39,4 x 29,9 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31541 LM
- NICHT IN DER AUSSTELLUNG -
Diese Fotografie zeigt drei Mädchen auf einer Birkenwiese. Alle haben einen ernsten Gesichtsausdruck, nur das vorderste Kind blickt in die Kamera. Es hebt sich von vielen Bildnissen dadurch ab, dass es im Freien aufgenommen wurde und nicht allen Dargestellten die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Fotografie erhält somit ohne kompositorische „Kniffe“ einen dokumentarischen Charakter.

Bildnis einer alten Frau
Annelise Kretschmer
1937
Silbergelatineabzug
36,7 x 28,1 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31142 LM
In den 1920er-Jahren beschäftigen sich verschiedene Fotografen, wie beispielsweise August Sander (1876–1964) oder Helmar Lerski (1871–1956) mit der menschlichen Physiognomie sowie ethnischen und sozialen „Typen“. Auch im Werk von Annelise Kretschmer finden sich zwei solch anmutende Porträtserien. So fotografiert sie 1931 Industriearbeiter im streng neusachlichen Stil im Sinn einer Typologie; 1937 entstehen Bilder von Worpsweder Torfbäuer:innen, die an Sanders Bauernporträts von 1925 erinnern.

Stadtansichten III
Trümmergrundstück
Annelise Kretschmer / Christiane von Königslöw
1958
Silbergelatineabzug
17,8 x 12,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31751 LM
Dortmunder Motive finden sich immer wieder im Oeuvre Kretschmers. Einer 1958 experimentell angelegten Studie im Stadtumfeld kommt dabei eine besondere Rolle zu. In diesem Jahr beginnt die fotografische Zusammenarbeit von Mutter und Tochter. So ist das Bildkonvolut sowohl Kretschmer, mehr noch aber ihrer Tochter Christiane (1940–2021) zuzuschreiben.
Die Aufnahmen vermitteln den Eindruck eines gemeinsamen fotografischen Lehrgangs im Außenraum. Unterschiedliche Gestaltungsmittel werden erprobt, wie Motivwahl, Wechsel von Perspektiven und Brennweiten oder der Fokus auf Licht- und Schattenkontraste an Häuserwänden.

Zwei spielende Jungen in Trümmern
Christiane von Königslöw
1958
Silbergelatineabzug
17,9 x 12,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31762 LM
Immer wieder fotografieren Mutter und Tochter dabei auch die Alltäglichkeit der Kinder. Aber ihr fotografisches Interesse gilt nicht nur ihnen allein, sondern auch Schattenbildern. Dafür wird der Fokus versetzt und die Blendeneinstellung verändert. Dabei zeigt sich, dass die Arbeit in der Dunkelkammer für das Bildresultat ebenso entscheidend ist wie die Arbeit vor Ort.

Spielende Kinder
Annelise Kretschmer
1950er-Jahre
Silbergelatineabzug
29,8 x 39,8 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30647 LM
Von diesem Motiv sind weitere Varianten, d.h. zu unterschiedlichen Momenten aufgenommene Bilder, im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund erhalten. Sie dokumentieren in der Zusammenschau gut die Arbeitsweise von Kretschmer und Königslöw. Oft reichen wenige Aufnahmen, um den Porträtierten oder die Situation im richtigen Moment festzuhalten.

Porträts II
Bildnis der Malerin Gerta Overbeck
Annelise Kretschmer
1974
Silbergelatineabzug
40,2 x 30,5 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30761 LM
- NICHT IN DER AUSSTELLUNG -
Kretschmers Werk ist weitgehend durch Porträts bestimmt. Auch wenn der Bildaufbau, Licht und Fokus mit der Zeit variieren, so gilt ihr Interesse dem Individuum. Trotz des Spiels aus Licht und Schatten ist ihren Fotografien eine große Sachlichkeit und Schlichtheit zu eigen. Das Porträt ihrer langjährigen Freundin Gerta Overbeck fängt diesen Sinn des Bildnisses paradigmatisch ein.
Sie selbst sagt zu ihren Porträtarbeiten: „Ich wollte den Menschen so darstellen, wie er sich gerade gibt. Ich wollte ihn herauslösen aus dem Allgemeinen und versuchte, seine Eigenart zu erfassen. Dabei interessierten mich diejenigen am meisten, die meinten, sie seien nicht fotogen.“

Bildnis Fritz Wotruba
Annelise Kretschmer
1961
Silbergelatineabzug
39,4 x 29,8 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30746 LM
- NICHT IN DER AUSSTELLUNG -
Diese Aufnahme von 1961 zeigt den Künstler Fritz Wotruba (1907–1975) umgeben von Skulpturen: Seitlich sitzend hat er den Blick zur Kamera gedreht, während er die Hände ineinander verschränkt hält. Im Vordergrund befinden sich Steine, im Hintergrund ist eine Skulptur zu erkennen. Der Blick Wotrubas wirkt zufällig wie ein kurzer Seitenblick ohne den Anspruch, für die Kamera zu posieren oder etwas darzustellen.

Bildnis Dina Vierny, Modell von Aristide Maillol in der Maillol-Ausstellung im Museum am Ostwall
Annelise Kretschmer
1962
Silbergelatineabzug
23,9 x 17,8 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31611 LM
Nach dem Zweiten Weltkrieg verändern sich Kretschmers Porträtaufnahmen: Von ihren Modellen rückt sie räumlich ab und ließ mehr Raum für den Hintergrund. Vermehrt fotografiert sie nun Personen auch außerhalb des Ateliers. So porträtiert sie Künstler:innen und Kulturschaffende, wie hier Dina Vierny, inmitten ihrer Werke oder im Ausstellungskontext.

Urlaubsfotos
Porträt Prof. Carl-Otto Kiepenheuer in seinem Sonnenobservatorium in Anacapri
Annelise Kretschmer
1958
Silbergelatineabzug
12,7 x 14 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31041 LM
- NICHT IN DER AUSSTELLUNG -
Auch im privaten Kontext ist die Kamera ein ständiger Begleiter, so beispielsweise auch bei Urlaubsreisen. Eine Reise nach Capri ist mit einem Besuch bei dem befreundeten Astrophysiker Kiepenheuer auf seiner neuen Forschungsstation verbunden. Bei den dort entstandenen Bildern verschmilzt das Genre Berufsporträt ganz selbstverständlich mit der Bestandsaufnahme des Ortes nebst wissenschaftlicher Apparaturen.

Rückenansicht von zwei Frauen, eine mit Pferdeschwanz und Henkelkorb
Annelise Kretschmer
1956
Silbergelatineabzug
14,7 x 10,4 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30136 LM
- NICHT IN DER AUSSTELLUNG -
Bei den späten Urlaubsbildern verlagert sich ihr Interesse zunehmend auf einzelne Szenen, die sie mit ihrem fotografisch geschulten Auge wahrnimmt – wie etwa einzelne Straßen- und Strandszenen. Die beiden Frauen ziehen vermutlich bei einem Urlaub in Camperduin die Aufmerksamkeit Kretschmers auf sich.

Leporello „Urlaub im Tessin“
Annelise Kretschmer
1960er Jahre
Papier und Silbergelatineabzug
Privatbesitz
Leporellos nehmen als Gestaltungsform eine besondere Stellung bei Annelise Kretschmer ein. Sowohl für Kunden als auch im privaten Bereich werden sie von ihr zum Teil sehr aufwendig gestaltet. Bei diesem Leporello, welches Fotos von einem Urlaub im Tessin zeigen, wird zudem ihr Interesse an Strukturen und Formationen deutlich. Nur wenige Bilder zeigen Menschen, es ist von Aufnahmen aus der Natur bestimmt.
