Beruf? Fotografin!
In eine wohlhabende Familie geboren, scheint für die Eltern der weitere berufliche Lebensweg der Tochter nicht von vorrangiger Bedeutung und geschieht fast zufällig. Noch während ihrer Ausbildung bei Franz Fiedler in Dresden kommt ihre Karriere in Schwung. Sie veröffentlicht in zahlreichen Zeitschriften, nimmt an Ausstellungen teil, gewinnt Preise. Zurück in Dortmund kann sie sich dort schnell als Fotografin etablieren.
Auf der Suche
Selbstporträt
Annelise Kretschmer
um 1925
Silbergelatineabzug
23,3 x 16,2 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31856 LM
Ursprünglich ist Annelise Kretschmer ohne konkrete berufliche Ambitionen. Sie durchläuft die „klassische“ Ausbildung einer höheren Tochter mit Stationen wie dem Goethe-Lyzeum in Dortmund, einem Töchterbildungsinstitut in Weimar und schließlich der Kunstgewerbeschule in München. Ganz der Zeit entsprechend will sie eigentlich eine Familie gründen.
Bildnis Laura Silberbach, geb. Hammelrath
Annelise Kretschmer
um 1927
Silbergelatineabzug
23,2 x 17 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30697 LM
Die Mutter von Annelise Kretschmer muss eine sehr resolute Geschäftsfrau gewesen sein. Sie hatte 1897 mit einem Geschäftskollegen das Modehaus Max Weser übernommen und weitergeführt. Auch nach ihrer Hochzeit mit Julius Silberbach im Jahr 1900 ist sie die Seele des Geschäfts.
Bildnis Julius Silberbach, im Vordergrund Maske
Annelise Kretschmer
1927
Silbergelatineabzug
23 x 16,1 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30695 LM
Der Vater von Annelise Kretschmer ist begeisterter Kunstsammler. Zahlreiche Künstler verkehren in der elterlichen Wohnung oder stellen in den Geschäftsräumen aus. Die Sammlung ist heute nicht mehr überliefert und war offensichtlich breit angelegt. So wissen wir, dass er ein Porträt von Paula Modersohn-Becker besaß sowie Pastellbilder, oder z.B. ein auf Porzellan gemaltes Porträt der preußischen Königin Luise und außereuropäische Objekte, wie auf dem Foto zu sehen ist.
Nordafrika
Annelise Kretschmer
1922
Bromöldruck auf Japanpapier
24,7 x 32,5 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31134 LM
Mit ihrem Bruder Wilhelm reist Annelise Kretschmer im Jahr 1922 nach Nordafrika. Sie leiht sich die Plattenkamera der Mutter und unternimmt mit ihr die ersten fotografischen Versuche. Noch im gleichen Jahr beginnt sie im Fotoatelier von Leon von Kaenel in Essen ein Volontariat.
Fotografie und Fotograf:in
Darstellung einer Camera obscura
Athanasius Kircher
Ars magna lucis et umbræ
Rom 1646
NICHT IN DER AUSSTELLUNG
Die Geschichte der Fotografie beginnt eigentlich schon in der Antike – als das Prinzip der Camera obscura entwickelt wird. Erst im 19. Jahrhundert entwickelt sich die analoge Fotografie in unserem heutigen Verständnis. In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist sie längst ihren Kinderschuhen entwachsen. Transportable Kameras und eine deutlich kürzere Belichtungszeit lassen neue Blickwinkel und Möglichkeiten zu. Trotzdem ist es eine anspruchsvolle bildnerische Technik, die ein umfangreiches Wissen voraussetzt.
Bei der Camera obscura (übersetzt: Dunkler Raum) entsteht das Bild durch Lichtstrahlen, die durch ein Loch in eine verdunkelte Kiste bzw. Raum fallen. Da Licht sich immer gerade ausbreitet, treffen die durch das Loch fallende Strahlen spiegelverkehrt auf. Somit ist das abgebildete Bild in der Camera obscura spiegelverkehrt. Dieser Vorgang ist das Grundprinzip der Fotografie.
Blick vom Fenster in Le Gras
Joseph Nicéphore Niépce
um 1826
Heliografie
16,7 x 20,3 x 0,15 cm
Harry Ransom Center's Gernsheim collection, The University of Texas at Austin
NICHT IN DER AUSSTELLUNG
Während die Camera obscura schon seit der Antike bekannt ist, entwickelt sich erst im 19. Jahrhundert die analoge Fotografie. Dem Franzosen Niepce gebührt dabei der Ruhm, das erste Foto hergestellt zu haben. Um 1826 gelingt es ihm – nach acht Stunden Belichtungszeit – den Blick auf einer mit Asphaltstaub und Lavendelöl bestrichenen Metallplatte festzuhalten.
Ein Fotograf scheint sich selbst in seinem Studio zu fotografieren
Unbekannter Fotograf (Wheeler, Berlin, Wis?)
um 1893
Library of Congress
LC-USZ62-19393
NICHT IN DER AUSSTELLUNG
Innerhalb kurzer Zeit werden zahlreiche Fotoateliers eröffnet, Fotografen ziehen über Land und fertigen Bilder für die Kundschaft an. Noch ist es ein sehr aufwändiges Verfahren mit langen Belichtungszeiten. So ist eine Halterung für den Kopf notwendig, da man sich nicht bewegen durfte – sonst wäre das Bild verwackelt.
Fotografie und Fotograf:in II
Selbstporträt mit einer der ersten Leica-Kameras, einer Leica I
Franz Fiedler
um 1924
Silbergelatineabzug
20,4 x 15,4 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31781 LM
Nach dem Volontariat bei dem Essener Fotografen Leon von Kaenel beginnt Annelise Kretschmer eine Ausbildung bei Franz Fiedler in Dresden. Bei ihm lernt Kretschmer das Bromöldruckverfahren, ein besonderes fotographisches Positivkopierverfahren. Fiedler fördert Kretschmer sehr. Er ermöglicht ihr verschiedene Veröffentlichungen und nimmt sie auf eine Reise nach Italien mit.
Plakat für die V Triennale di Milano 1933
Mario Sironi
1933
Fondazione La Triennale di Milano
© Triennale Milano – Archivi
NICHT IN DER AUSSTELLUNG
Noch während ihrer Dresdener Lehrzeit stellt Annelise Kretschmer in verschiedenen Gruppenausstellungen aus, wie dem „I. Internationalen photographischen Salon“ in Prag (1928) oder an der bahnbrechenden Ausstellung „Film und Foto“ in Stuttgart (1929) sowie bei der V. Triennale di Milano (1933).
Rollfilmkamera
Rollfilmkamera No.1 Pocket Kodak Junior
1920er Jahre
LWL-Medienzentrum für Westfalen
Mit dieser Kamera wurden Schwarz-Weiß Negative belichtet. Farbfilme gab es für diese Kamera damals noch nicht. Am Objektiv ließen sich Zeit und Blende einstellen. Der kleine Würfel oberhalb des Objektivs ist der Sucher. Für den Transport ließ sich die Kamera zusammenklappen und wie eine kleine Handtasche tragen.
Annelise Kretschmer benutzt Ende der 1920er-Jahre eine ähnliche Kamera, wie auf verschiedenen Selbstporträts zu sehen ist.
Die Neue Frau: Zuschreibung und Wirklichkeit bei Annelise Kretschmer
Selbstporträt
Annelise Kretschmer
1929
Silbergelatineabzug
22,4 x 16,3 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31854 LM
In den 1920er-Jahren entwickelt sich ein neues Bild der Frau. Es gibt Freiheiten, die vorher undenkbar waren: In der Mode sind knielange – also kurze – Kleider und Bubikopf erlaubt. Jetzt können Frauen aber auch bestimmte Berufe ausüben und eigenes Geld verdienen. Trotzdem sind den weiblichen Handlungsspielräumen noch immer enge Grenzen gesetzt.
In den Selbstbildnissen Annelise Kretschmer spiegelt sich das Bild der neuen Frau wieder. Mit kurzen Haaren, Zigarette rauchend und selbstbewusst blickt sie in die Kamera. Zudem ist sie für die finanzielle Versorgung der kleinen Familie – 1930 kam die erste Tochter Tatjana auf die Welt – zuständig. Ihr Mann kann zwar an verschiedenen Ausstellungen teilnehmen, jedoch verkauft er anscheinend nur wenige Werke. Zudem sind sie noch immer auf die Unterstützung der Eltern Silberbach angewiesen. Sie verschaffen Annelise Kretschmer Fotoaufträge oder können mit ihrem umfangreichen Netzwerk in Kunstkreise weiterhelfen.
Prominente Vertreter moderner Lichtbildkunst
in: Wochenschau, Beilage der Essener Allgemeinen Zeitung
07.09.1930
NICHT IN DER AUSSTELLUNG
Welchen Ruf Annelise Kretschmer in der Weimarer Republik genoss, zeigt ein Beitrag in der Wochenschau. Mit dem Selbstporträt Kretschmers von 1929 wird sie als prominente Fotografin vorgestellt. Sie wird dabei in einer Reihe mit so berühmten Fotografen gezeigt, wie Albert Renger-Patzsch oder auch ihrem Lehrmeister Franz Fiedler.
Frau mit Hut
Annelise Kretschmer
1930
Silbergelatineabzug
39,2 x 29,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30629 LM
Für das Atelier der Eltern entstehen zahlreiche Modefotografien. Einige davon kann Annelise Kretschmer auch in Wochenzeitschriften veröffentlichen. Darüber hinaus stellt sie in den Räumen der Modehandlung der Eltern aus.
Porträt der Opernsängerin Ellice Illiard
Annelise Kretschmer
1930
Silbergelatineabzug
29,3 x 39 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30628 LM
In Dortmund etabliert sich Kretschmer aber auch als wichtige Porträtfotografin. Zahlreiche bedeutende Frauen und Männer werden von ihr im Bildnis festgehalten. Einige Werke entstehen in privatem Kontext, andere sind Auftragswerke.
Beruf und Familie: Abgrenzung und Vereinnahmung
Bildnis Sigmund Kretschmer
Annelise Kretschmer
um 1928
Silbergelatineabzug
22,7 x 23,5 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30890 LM
Auch wenn die Versorgung der Familie – nach dem Tod ihres Mannes 1953 muss sie ihre vier Kinder selbst versorgen – sicher nicht einfach ist, so bietet das private Umfeld doch eine schier unendliche Flut an Motiven und Gelegenheiten. So sind die privaten Aufnahmen zwar auch ein intimer Blick in das Familienleben der Künstlerin. Jedoch probiert sie hier auch Kompositionen, Beleuchtung und andere Techniken aus, die sie für den professionellen Kontext nutzen kann.
Sie sagte zur privaten Aufgabenverteilung: „Wir haben es gelebt, andere sind dafür eingetreten. Ich hatte kein Bewußtsein von der Notwendigkeit eines Berufes für die Frau – ich wollte eine Familie, aber zugleich auch meinen sehr zufällig begonnenen Beruf weiterführen. Das Fotografieren machte mir inzwischen sehr viel Freude. Ich zog damals wenig in Zweifel und nach der Heirat war es mir selbstverständlich zu arbeiten, denn mein Mann konnte in seinem Beruf nur selten etwas verdienen.“
Bildnis Tatjana Kretschmer
Annelise Kretschmer
1935
Silbergelatineabzug
39,5 x 29,9 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31553 LM
Tatjana Kretschmer wird 1930 als erstes Kind des Paares geboren. Ihr Aufwachsen wird von Kretschmer in zahlreichen Fotos festgehalten. Darunter befinden sich Studioaufnahmen wie dieses Werk. Der Spiegel fasst den Kopf des kleinen Mädchens eng ein, wodurch der ernste Gesichtsausdruck noch einmal stärker betont wird.
Porträt Nina Kretschmer
Annelise Kretschmer
1943
Silbergelatineabzug
23,7 x 17,9 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31088 LM
Nina Kretschmer ist auf diesem Bild fünf Jahre alt. Gesicht und Brummkreisel treten aus dem Dunkel des Bilds überdeutlich hervor. Formen und Licht bilden ein interessantes Wechselspiel. Der Gesichtsausdruck ist unbefangener als bei dem Bild ihrer Schwester – fast so, als sei sie beim Spiel mit dem Kreisel gerade unterbrochen worden.
Trümmergrundstück
Annelise Kretschmer / Christiane von Königslöw
1958
Silbergelatineabzug
17,8 x 12,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31751 LM
In diesem Haus hatte Kretschmer anscheinend nach dem Krieg ihr Atelier, bevor sie mit der Familie in den Brüderweg zog. Hier hatte sie ihr Fotoatelier, direkt neben einer großzügigen Wohnung. Mit ihrer Arbeit wurde sie zu einer festen Größe im Dortmunder Kulturleben.
Spiegelreflexkamera
Rolleiflex SL 66
Späte 1960er-Jahre
LWL-Medienzentrum für Westfalen, Münster
Dieses Kameramodell benutzte Annelise Kretschmer. Ein Zeitzeuge, Gustav Beideck aus Dortmund, erinnert sich sehr gut daran, wie er als 12-jähriger (1969) für die Anfertigung von Familienfotos im Atelier von Annelise Kretschmer war: „Frau Kretschmer benutzte eine Rolleiflex SL 66, damals das Beste vom Besten im Mittelformat, Preis ab 3.000 DM aufwärts. Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, wofür sie denn eine so teure Kamera brauche. Sie erklärte mir, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdiene.“
Bildnis der Kunsthistorikerin Dr. Leonie Reygers
Annelise Kretschmer
o.J.
Silbergelatineabzug
51,6 x 52,2 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31536 LM
NICHT IN DER AUSSTELLUNG
Kretschmer wird nach eigener Aussage gerade in den Anfangsjahren in Dortmund sehr von der Direktorin des Museums am Ostwall, Leonie Reygers, unterstützt. Sie schätzt ihre Arbeit sehr, so dass im Umfeld von Reygers zahlreiche Fotografien von Kulturschaffenden entstehen. Vermutlich sind diese Werke Privataufträge von Reygers oder den Porträtierten. 1966 ermöglicht Reygers ihr zudem mit „Porträts aus der Museumswelt“ noch eine Einzelausstellung, die zugleich ihre eigene Museumsarbeit Revue passieren lassen.
Porträt der HNO-Ärztin Regina Finis aus Dortmund
Annelise Kretschmer
1950er-Jahre
Silbergelatineabzug
39 x 29,6 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30155 LM
Internationale Kulturgrößen, Industrielle oder auch ganz „normale“ Menschen, wie diese Ärztin, werden von Annelise Kretschmer fotografiert. Wie sie selbst sagt, überzeugt dabei im Allgemeinen ihre Bildsprache: „denn mein Stil war es, jeden Menschen so zu fotografieren, dass sein eigenes Selbst zum Vorschein kam, nicht sein Klischee…“
Hände von Annelise Kretschmer mit Kamera
Christiane von Königslöw
o.J.
Silbergelatineabzug
17,7 x 12,8 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-31859 LM
Die jüngste Tochter Kretschmers, Christiane (1940-2021), unterstützt sie ab 1958 in ihrem Atelier. Während bei einigen Arbeiten die Urheberschaft nicht gesichert ist, so doch bei diesem ungewöhnlichen Bild. Der Fokus liegt ganz auf den Händen Kretschmers, die sich vor dem dunklen Hintergrund deutlich abheben. Eine Hand fokussiert das Objektiv, während die andere einfallendes Seitenlicht im Sucher abschirmt, um sich auf das Motiv zu konzentrieren: Das Hand-Werk einer Fotografin.
Bildnis Christiane Kretschmer
Annelise Kretschmer
um 1965
Silbergelatineabzug
39 x 48,8 cm
LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
C-30930 LM
Christiane Kretschmer (verh. von Königslöw) steht aber auch selbst Porträt, wie bei diesem Bild. Ausgelassen lachend hält sie die Hände vor das Gesicht. Das Bildnis ist ein typisches Beispiel für die Art der Fotografie Kretschmers. Unmittelbar und berührend wird das Wesentliche erfasst.